Sie war schon den ganzen Tag aufgeregt, ja heute, heute sollte es geschehen. Jetzt waren es nur noch Minuten, bis es klingeln würde. Sie wusste nicht, wie sie ihr begegnen sollte. Sie in den Arm nehmen, ihr die Hand reichen oder nur ein „willkommen“ aussprechen?
Dabei waren sie sich einmal sehr nahe gewesen und dachten, nichts könnte diese Vertrautheit erschüttern. Als sich ihre Freundin Sylvia in ihren Mann verliebte und er mit ihr ging, war es für sie hart diesen Schmerz zu überwinden und wieder Menschen zu vertrauen.
Was will Sylvia gerade jetzt von mir und warum meldet sie sich überhaupt? All diese Gedanken geisterten in ihrem Kopf umher und sie stellte immer wieder neue Hypothesen auf. Bis sie sich zur Ordnung rief und verbot, weiter zu spekulieren. Schnell ging ihr Blick noch einmal zum Spiegel, denn es war ihr sehr wichtig, gut auszusehen. Sie konnte beruhigt aufatmen, denn für ihr Alter sah sie noch gut aus. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu und ermunterte sich ruhig zu bleiben. Da klingelte es auch schon. Sie nahm einen tiefen Atemzug, ging langsam auf die Türe zu und öffnete mit einem etwas verzagtem Gesicht. Als sie Sylvia dastehen sah, verloren und abgespannt, da konnte sie nicht anders: Sie nahm ihre frühere Freundin in die Arme und bat sie herzlich herein.
Sylvia stand verlegen lächelnd im Wohnzimmer und wartete, bis sie einen Platz angeboten bekam. Nachdem sie Kaffee erhalten hatte und der Smalltalk beendet war, kam sie auf den Grund ihres Besuches zu sprechen.
„Es tut mir unendlich leid, was ich Dir damals angetan habe. Ich weiß, ich kann es nicht mehr rückgängig machen, aber Du sollst wissen, dass kein Tag verging, ohne dass ich an Dich dachte und mich mies gefühlt habe. Gegen diese starken Gefühle war ich machtlos.“
Sie antwortete ihr: „Als ihr beiden damals weggegangen seid, konnte ich euch nicht verzeihen und habe in meinem Schmerz euch des Öfteren verwünscht. Heute weiß ich es besser. Ich wäre nicht die Frau, die ich jetzt bin. Ich konnte mich weiterentwickeln. Ich glaube, diese Chance hätte ich mir an seiner Seite nicht genommen. Heute bin ich mit meiner Situation in Frieden. Du bist frei und ich bin frei, das möchte ich Dir damit sagen.“
Sylvia sagte schlicht: „Danke. Wolfgang hat einen Wunsch an Dich. Es geht ihm sehr schlecht und er bittet Dich zu ihm zu kommen. Er möchte mit Dir sprechen, da es ihm selbst nicht mehr möglich ist. Bitte überlege nicht zu lange, er hat nicht mehr viel Zeit“. Tief betroffen hörte sie ihr zu und gab ihrem spontanen Impuls nach und sagte zu, am nächsten Tag Wolfgang zu besuchen. Sylvia war erleichtert und dankte ihr von ganzem Herzen.
Der nächste Tag fühlte sich für sie bleiern an. Sie stellte sich lange unter die heiße Dusche, um sich für diesen schweren Besuch zu stärken. Wenn sie noch gekonnt hätte, würde sie jetzt den Rückzug antreten und sich damit herausreden „ich will ihn so in Erinnerung behalten wie ich ihn kenne und nicht einen siechenden Menschen erleben“. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, trocknete sich ab, schlüpfte in ihre Kleider und machte sich für den letzten Besuch bei Wolfgang fertig.
Als sie klingelte öffnete ihr Sylvia und bat sie herein. Sie führte sie in Wolfgangs Zimmer und ließ die beiden alleine. Wolfgang schaute sie an und brachte ein Lächeln zustande: „Danke, dass Du gekommen bist.“ Er redete langsam und leise. Sie musste sich beherrschen, dass ihr die Tränen nicht über die Wangen liefen. Ihn so verletzlich und schwach zu sehen, löste in ihr mehr Mitgefühl aus, als sie es sich hätte vorstellen können. Nach einer Pause bat er sie, sich an sein Bett zu setzen und nahm ihre Hand und sprach langsam und abgehackt weiter. „Ich weiß, dass ich bald gehen werde und es ist mir ein Bedürfnis dich noch einmal zu sehen und Abbitte zu leisten. Ich habe dich damals so sehr verletzt. Kannst Du mir vergeben?“
Sie antwortete schlicht: „Wolfgang, das habe ich bereits vor langer Zeit getan. Es steht nichts zwischen uns.“
Er nickte und schloss die Augen. „Jetzt habe ich alles erledigt.“ Sie merkte, wie erschöpft er war, gab ihm einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich von ihm. Als sie das Zimmer verließ, spürte sie eine tiefe Stille und Frieden in sich. Sie wünschte ihm eine gute Reise in die Anderwelt und machte sich auf den Heimweg.
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