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Das Gespür von Wind – eine Elfengeschichte

  • Beitrags-Kategorie:Anneliese Naser
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Marie war auf dem Heimweg, als es das erste Mal passierte. Sie war den ganzen Tag schon unruhig und der Wind, der Wind begeisterte sie. Sie streckte ihre Arme aus und ließ sich treiben. Voller Freude drehte sie eine Pirouette und spürte ein Ziehen in ihrer Brust, das sie sich nicht erklären konnte. Marie blieb stehen und versuchte durchzuatmen und merkte, dass dies nur schwer möglich war. Dann wurde es um sie herum ganz hell und sie nahm wahr, dass irgendetwas nicht stimmte. Als sie sich ein bisschen erholt hatte, sah sie eine Gestalt vor sich stehen, die sie anlächelte und sagte:

„Du brauchst keine Angst zu haben, ich komme, um dich nach Hause zu deiner wahren Familie zu holen.“

Marie blieb stehen und hielt den Atem an. Als sie ihren Blick anhob, stand die Gestalt immer noch da und lächelte sie so freundlich an, dass sie alle Angst verlor. „Was willst du von mir?“, fragte sie die Gestalt.

„Hast du bemerkt, wie sehr du den Wind liebst und wie du jedes Mal aufblühst, wenn du mit dem Wind in Berührung kommst?“

Marie lächelte: „Ja, Wind, noch besser Sturm, ist meine Urkraft.“

„Weil du eine Windtochter bist“, erklärte ihr die Gestalt. „Ich bin Urdu, der Bote deiner Windfamilie!“

„Halt,“ schrie Marie, „das kann nicht stimmen, denn ich habe Eltern, einen Bruder und eine Schwester und ich lebe schon, solange ich denken kann, bei meiner Familie, erzähle mir keinen Unsinn.“

Urdu lachte dröhnend. „So habe ich dich eingeschätzt. Du bist wie der Wind. Komm mit mir Marie, du weißt schon, dass Marie dein Menschenname ist. Dein Windname ist Audrie.“

„So ein Quatsch, was du mir erzählst. Ich gehe jetzt heim und lasse mich nicht länger von dir aufhalten.“

Sie drehte sich um und wollte einfach weitergehen, als plötzlich ein Sturmwind hervorbrach, den sie in keiner Weise erwartet hatte. Sie spürte ein wahres Glücksgefühl und ließ sich treiben und hatte das Empfinden, wenn der Sturm nur ein bisschen stärker wäre, dann könnte sie fliegen, ein Wunsch, den sie schon immer gehegt hatte.

Urdu lachte lautstark und fragte sie: „Glaubst du mir jetzt?“

„Wieso hast du Einfluss auf den Wind?“

„Das kannst du auch, Audrie, versuch es einfach.“

Während sie miteinander redeten, war wieder Normalität zurückgekehrt. Marie – oder Audrie, wie die Gestalt sie nannte – war sehr verunsichert und sie merkte, wie Wut in ihr hochstieg. Sie drehte sich zu Urdu um und fauchte ihn an:

„Lass mich einfach in Ruhe.“ Dabei fuchtelte sie mit ihren Armen und jäh spürte sie eine Macht in sich und empfand, wie sie einen Sturm entfesselte. Sie war so verblüfft, dass sie die Arme fallen ließ und zu weinen begann. Das war einfach zu viel. Audrie wusste nicht mehr, was sie denken sollte, ihr brummte der Kopf, ihr war schwindlig und sie fühlte sich verlassen. Das Wesen schaute sie mitleidig an und sagte:

„Ich weiß, dass ich dir gerade viel zumute, aber du schaffst das, das ist gewiss.“

Als Audrie ihre Augen hob und Urdu anschaute, spürte sie wieder diese unendliche Liebe, die er ausstrahlte, wie sie davon berührt war und ihr dieses flaue Gefühl wegnahm. Sie war irgendwie dankbar, dass es ihr wieder besser ging. Sie fragte Urdu ganz leise:

„Was soll ich jetzt tun?“

„Am besten, du gehst nach Hause zu deiner Familie und redest mit ihnen. Sie können Licht ins Dunkle bringen und dir helfen, die richtige Entscheidung zu treffen.“

„Wissen sie etwa, dass ich eine Windtochter sein soll?“

„Ja Audrie, von Anfang an.“

Als sie daheim ankam, war ihre Mutter gerade dabei, den Tisch zu decken. „Marie, du kommst heute aber spät heim,“ sagte sie und schaute ihre Tochter tadelnd an. „Was ist passiert, Marie?“

„Ich habe Urdu getroffen, kennst du ihn vielleicht?“

Ihre Mutter wurde blass: „Oh, jetzt schon, ich habe gedacht, dass wir noch mehr Zeit miteinander haben.“

„Wie“, unterbrach Marie sie entrüstet: „Du weißt davon?“

„Setz dich, ich rufe deinen Vater an, damit wir im Kreise der Familie überlegen können. Eines ist gewiss, es ist deine Entscheidung, was du letztendlich tust.“ Marie hörte, wie sie telefonierte. Sie hatte im Moment absolut keinen Hunger und biss auf ihrer Unterlippe herum und dachte: „Da bin ich sehr gespannt, was die mir jetzt erzählen.“ Sowohl Marie als auch ihre Mutter schauten ständig aus dem Fenster und hofften, dass ihr Vater bald kommen würde. Im Moment waren sie eher einsilbig.


Dies ist das erste Kapitel der Elfengeschichte von Anneliese Naser.
Erschienen am 10.9.2024, erhältlich überall im Buchhandel
ISBN 978-3759872692, Taschenbuch, 291 Seuten – 15 EUR