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Der Garten des Versprechens

Im Moment meiner Geburt gab mir das Universum das Versprechen, dass die genetische Verschmelzung der beiden Haploide meiner Eltern zu einem einzigartigen Menschen wunderbar geklappt hatte. Alle Talente, körperlichen Merkmale und das Familiengedächtnis waren optimal angelegt. Als die Hebamme die Nabelschnur durchtrennte, sah ich für einen kurzen, intensiven Augenblick eine Art Vorausschau auf das Weltgeschehen und meine persönliche Zukunft darin. Es schien, als würde ein kraftvoll gebündelter Lichtstrahl auf die kleinen und glitzernden Mosaiksteine meines Lebens treffen. Es entstanden dadurch Bilder und Visionen, die zwar keinen Film, aber fassbare Bilder ergaben, Es blieb ein tröstliches Gefühl und eine leise Ahnung von einer glücklichen Zukunft in meinem Herzen zurück.

Ich kam mittels Kaiserschnitt auf die Welt; meine Mutter musste der Hebamme versprechen, nicht mehr schwanger zu werden. Die Gebärmutter war schon sehr angegriffen und es wäre nicht voraussehbar, ob die Vernarbungen einer erneuten Schwangerschaft standhalten würden. Nun, ich war das dritte Kind, und das ersehnte Mädchen, also gab sie dieses Versprechen leichten Herzens.

Meine ersten Kinder-Versprechen waren die üblichen. Ich versprach, artig zu sein, nicht die ganze Tafel Schokolade auf einmal zu essen, mir das Kleid nicht schmutzig zu machen, die Nachbarn zu grüßen, nicht zu lügen, den Herrn Pfarrer mit einem Knicks zu beehren, das Kopftuch aufzusetzen, aufzuessen, mich immer um den Hund zu kümmern, nicht ungefragt zu reden und vieles mehr. Natürlich habe ich viele Versprechen gebrochen und so lernte ich, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Manches wog schwer und zog eine Strafe nach sich, anderes wiederum war nur ein Augenrollen wert.

Im Hormonrausch der Pubertät fühlte ich so eine Art Zukunftsversprechen. Ich gab mir das Versprechen, nicht so zu leben wie meine Eltern. Ich wollte keinen perfekten Haushalt führen, mich nicht mit drei Kindern abplagen müssen, nicht gute Mine machen und mich immer hintenanstellen. Ich wollte meine Talente entdecken und fördern, mir die Nächte an zwielichtigen Orten um die Ohren schlagen, laut sein, neugierig sein, keine Vorurteile haben, nicht dem Geld hinterherlaufen und schon gar nicht einem Schönheitsideal oder einer Moralvorstellung entsprechen. Heiraten, ein Haus bauen und eine Familie gründen werde ich nie und nimmer. Versprochen!!

Mein erstes großes Erwachsenen-Versprechen gab ich mit zwanzig Jahren meiner Mutter an ihrem Sterbebett. Es schien, als würde das Universum mit seinem Glücksversprechen zu geizen beginnen.

Meine Mama habe ich sehr geliebt, ihre sanftmütigen und zarten Gesten, wenn sie mir so nebenbei übers Haar strich, ihr Lächeln, ihre Geduld, ihre Kochkünste, ihre geschickten Hände, ihren grünen Daumen, ihr großes Wissen über die Heilkraft der Kräuter. Vieles hat sie mir so nebenbei vermittelt.

Das Interesse in meiner Jugend galt ganz anderen Dingen; und bewundert habe ich emanzipierte und selbstbewusste Frauen. Meine Mama habe ich geliebt, aber bewundert hab ich sie damals nicht. Das hat sich mit zunehmendem Alter geändert. Heute hat sie meine uneingeschränkte und aufrichtige Bewunderung.

Ich habe ihr versprochen, Papa zur Seite zu stehen, auf eine gute Beziehung zu meinen Brüdern zu achten und glücklich zu werden,

Mein einziges ernstgemeintes Liebesversprechen kam überraschend leicht daher. Es breitete sich warm in meinem Inneren aus, durchflutete mein Herz und spülte mit einem pumpenden Rhythmus ein enormes Glücksgefühl durch meinen Körper, von den Zehenspitzen bis unter die Kopfhaut. Wir hielten das Glück mit beiden Händen fest, sahen uns tief in die Augen und ohne Mühe wurde daraus eine große und starke Liebesbeziehung.

Wortreiche Liebesschwüre haben mein Liebster und ich uns nie gegeben. Es war einfach nicht nötig. Wir waren uns einig, dass wir weder heiraten noch eine Familie gründen wollten. Gemeinsam waren wir bereit, das Leben mit all seinen Herausforderungen anzunehmen, uns nicht vom Alltag unterkriegen zu lassen und immer genügend Zeit für Musik, Bücher und gute Filme zu haben.

Einiges ist natürlich ganz anders gekommen; der Alltag hat uns zahlreiche graue Stunden beschert und manch drückende Last hat spontane Höhenflüge verhindert, doch wir haben unser Versprechen, keinen Tag ohne Musik und Lesen zu verbringen, gehalten.

Im Alter von vierzig Jahren gab ich nochmals ein Versprechen am Sterbebett. Dieses Mal war es meine junge Schwägerin, der ich mein Wort, auf ihre zwei Kinder ein Auge zu haben, gab. Für mich war das selbstverständlich, und ich bot es von mir aus an, es wurde mir nicht abgerungen. Verantwortung dann zu übernehmen, wenn es geboten ist, ist Teil meiner Persönlichkeit. Wenn die Familie oder Freunde Hilfe benötigen, biete ich meine Unterstützung an, so wurde es mir in meiner Familie vorgelebt.

Dadurch wird das Leben komplizierter, schwerer und anstrengender, und man muss lernen, die eigenen Bedürfnisse zeitweise in den Hintergrund zu stellen, und versuchen, mit einem offenen Lächeln Hoffnung und Freude zu verbreiten.

Es ist natürlich wichtig, auf sich zu achten, aber ständig um sich selbst zu kreisen, macht auch nicht glücklich. Wenn uns das Leben plötzlich einen neuen Weg aufzeigt, den man von sich aus gar nicht entdeckt hätte, und man diesen dann beherzt beschreitet, dann wird man für seinen Mut belohnt. Davon bin ich fest überzeugt. Richtungswechsel bescheren uns neue Erkenntnisse, lassen uns außergewöhnliche Erfahrungen machen, oder spezielle Menschen kennenlernen. Auf jeden Fall ist es bereichernd. Es ist notwendig, aus seiner Komfortzone gelockt zu werden, um neue Talente bei sich zu entdecken.

Manchmal kommt die Verantwortung als verkleideter Segen daher.

Im Alter von sechzig Jahren gab ich mir anlässlich meiner Pensionierung das stille Versprechen, wieder mehr auf meine Bedürfnisse zu achten. Ich wollte mich meinen schöpferischen Tätigkeiten, dem Schreiben und meinen Bildcollagen, widmen. So, wie das hormonelle Durcheinander während der Pubertät, hatte vielleicht auch das Klimakterium eine Schubwirkung auf die Befreiung aus Konventionen und Verkrustungen. Die Wechseljahre sind für Frauen nicht nur Verlust, sondern laden auch ein, sich Gedanken über die noch verbleibende Zeit zu machen. Sie können ein Wendepunkt sein, einen Neuanfang bewirken, ein bewusstes und genussvolles Leben einläuten,

Ich habe gelernt, dass mein Leben, so wie die Natur, in Zyklen verläuft und dass ich Geduld haben muss. Manche Wünsche müssen noch etwas auf ihre Erfüllung warten, einfach, weil die Zeit noch nicht reif dafür ist.

Meine Versprechen behandle ich wie Pflanzen, die mich lebenslang begleiten; sie benötigen meine Fürsorge und meine Aufmerksamkeit. Mein Leben wird dadurch bunter und duftiger, und nebenbei kann ich ihre Früchte genießen. Ich stutze sie auch regelmäßig, denn sie dürfen sich nicht ungehindert ausdehnen und mit ihrer Größe die zarten Pflänzchen in den Schatten stellen. Ich achte darauf, dass die Blüten Samen ä und streue sie in die Welt.

Der Humus für meinen Garten des Versprechens besteht aus Empathie, Geduld und Verantwortung. Die Liebe ist seine Sonne und der Respekt reguliert die Wasserressourcen.

Das Versprechen des Universums, das ich bei meiner Geburt bereitwillig als Geschenk angenommen habe, werde ich am Ende des letzten Zyklus, fein säuberlich verpackt, mit dem Vermerk „Danke für die erlebte Fülle“, in den großen Kreislauf zurückgeben.

Versprochen


Collage von Christine Hagelkrüys