Von Messina bin ich enttäuscht, denn der Klang des Namens hat mich Großes erahnen lassen. Wir fahren los in Richtung Catania. Vor uns sehe ich das erste Mal den Ätna bewusst und ich habe den Eindruck, dass er raucht, aber ich denke, dass das eine Fata Morgana ist oder irgendwelche Lichtspiegelungen. Der Verkehr wird lebhafter und fast aggressiv: ständig hupt es irgendwo oder es wird geschimpft und gedroht. Ich fahre ganz langsam, da mich diese Fahrweise einschüchtert. Eduard studiert die Karte und sagt:
„An der nächsten Ampel biege links ab, da kommen wir in die Nähe des Ätna, und da scheint es ein wenig ruhiger zuzugehen.“
Ich schere links ein um abzubiegen. Vor mir ist ein Auto. Die Ampel springt auf Rot. Der Fahrer gibt Gas und fährt mit Karacho über die rote Ampel. Reifen quietschen, ein Hupkonzert bricht los, ich bin so erschrocken, dass ich die grüne Ampel übersehe. Hinter mir ein Getöse, ein Auto fährt mir fast auf die Stoßstange. Ich bin völlig überfordert von dieser Art Auto zu fahren, reiße mich zusammen und denke nach der Abzweigung wird es ruhiger, das hier halte ich noch aus. Es geht bergauf die Straße wird immer enger, so dass keine zwei Autos mehr aneinander vorbeikommen. Der Bergauffahrende muss rückwärtsfahren – oder er hat Glück und es gibt eine Einbuchtung. Ich fühle mich nicht sicherer als auf der belebten Straße und hoffe inständig, dass mir kein Auto begegnet. Eduard bemerkt mein Unbehagen und fragt mich:
„Soll ich weiterfahren?“ Ich nicke und bin heilfroh, dass ich mich auf den Beifahrersitz setzen kann.
Wir kommen in kleine Bergdörfer und da steht auf einmal der Ort Milo. Ich werde ganz aufgeregt und sage zu Eduard: „Hier wohnt Santina.“ „Na da machen wir doch einen kleinen Antrittsbesuch,“ war Eduards Antwort.
Wir finden schnell Santinas Elternhaus und klingeln. Ein kleiner Hund kommt uns bellend und schwanzwedelnd entgegen und dann eine Frau mittleren Alters. Sie hat fast schwarze Haare, ist braun gebrannt und ich erkenne in ihren Zügen die Ähnlichkeit zu ihrer Tochter. Eduard übernimmt das Reden und erklärt ihr halb italienisch und lateinisch, dass Santina eine Zeitlang bei uns in Bayreuth gewohnt hat. Ihre Mutter lässt uns herein, nimmt mich in ihre Arme und küsst mich rechts und links auf meine Wangen. Von dieser Herzlichkeit bin ich berührt. Wir werden gleich in die gute Stube gebeten und dann kommt Santina. Sie kann es nicht fassen uns zu sehen und bricht in eine Art Kriegsgeheul aus und tanzt mit mir durch das Wohnzimmer. Ich merke, dass sie etwas Startschwierigkeiten hat Deutsch zu sprechen aber nach einer kurzen Eingewöhnungsphase spricht sie wieder fließend und fast ohne Akzent deutsch.
Wir werden eingeladen bei ihnen zu wohnen und für das Abendessen um 20 Uhr. Wir erklären, dass wir gerne zum Essen kommen, aber doch in unserem Bus schlafen, da dies für uns eine Freude ist. Schweren Herzens gibt Senora C. nach. Wir duschen ausgiebig und danach zeigt uns Santina ihr Dorf und redet ohne Punkt und Ende. Ich schmunzle so vor mich hin und muss mich erst wieder an ihre lebhafte Art gewöhnen.
Den Ätna sehe ich fast von jeder Straße aus, er ist überall präsent. Beim Abendessen ist die ganze Familie versammelt: die Großeltern, Santinas Bruder und der Herr des Hauses. Die Unterhaltung klappt recht gut, denn Santina springt immer wieder ein, wenn es hapert. Sie erklärt uns, dass sich das ganze Dorf am Marktplatz trifft und, dass es Sitte ist, nach dem Abendessen noch ein wenig ins Giro zu gehen – wir sollen uns ihr doch anschließen, denn die Kühle der Nacht tut einfach nur gut.
Die Dorfbewohner treffen sich hier jeden Abend. Ich bin sehr überrascht wie das ruhige Dorf von heute Nachmittag jetzt zu Leben erwacht ist. Santina erzählt uns, dass diese Zeit die einzige Möglichkeit für junge Mädchen ist, ohne, dass der Vater oder große Bruder aufpassen und selbst sie die in Catania studiert und ein halbes Jahr in Deutschland war, wird von ihrem jüngeren Bruder überwacht und darf nur mit ihm am Samstagabend ausgehen. Das ist für mich gar nicht so überraschend, denn ich kenne diese Praktik auch aus Deutschland von den 60iger Jahren. Aber hier scheint es noch eine Spur verschärfter zu sein.
Am nächsten Morgen trinken wir Kaffee im Bus und überlegen uns, dass wir weiter fahren, um noch mehr von dieser wunderschönen Insel zu sehen. Schweren Herzens und mit viel Hallo lässt uns Familie C. weiterziehen; wir müssen das Versprechen abgeben, auf den Rückweg noch einmal vorbeizuschauen. Was wir auch gerne tun.
Wir sind ein ganzes Stück über den Meeresspiegel und so ist es noch kühl. Wir wurden schon von Santina gewarnt, dass es heute sehr, sehr heiß werden soll. Noch können wir uns nicht vorstellen, was sie damit genau meint, denn ich denke, bei uns ist es auch manchmal heiß. Wir fahren den Berg hinunter nach Acireale, es ist noch früh am Tag.
Eduard schlägt vor: „Du wir schauen uns zuerst die Stadt an und trinken irgendwo einen Espresso, denn um acht Uhr können wir nicht bei fremden Menschen ankommen.“
Das Städtchen ist bezaubernd und außerdem ist Genussmarkt. Mir läuft bei all diesen Köstlichkeiten das Wasser im Mund zusammen. Ich sehe Früchte, die ich nicht kenne -nach Farben geordnet, als wäre ein Maler mit seiner Palette vorbeigekommen und hätte sie über all diesem Obst ausgegossen. Wir sehen einen frischen Thunfisch, der für meine Begriffe riesig ist – Eduard schätzt so 2 – 2 1/2 Meter. Satt von dem Augenschmaus und den Gerüchen suchen wir uns ein nettes Café, um uns etwas auszuruhen. Wir sehen, dass die meisten Menschen, die hier sitzen, irgendein Stück Gebäck essen – mit Eis. Eduard der immer sehr experimentierfreudig ist, bestellt sich dieses Frühstück auch und findet, dass es zwar ungewöhnlich ist, aber gut schmeckt. Hinterher erfahren wir, dass das Gebäck eine Brioche ist.
Die Sonne ist jetzt um neun Uhr schon richtig warm und meiner Ansicht nach intensiver als bei uns. Wir setzen uns in den glühendheißen Bus und machen uns auf den Weg zu Annas Adresse. Wir finden uns ziemlich schnell zurecht und sehen fast vor jedem Haus alte Frauen mit dunkler Kleidung und Kopftuch sitzen.
Ich frage mich: „Wo sind die Männer oder sind diese Frauen alle Witwen?“
Wir klingeln an der Wohnungstüre und Anna öffnet uns. Sie lässt einen Schrei los und hupft voller Freude von einem Bein auf das andere und fällt mir um den Hals. Es ist eine Freude so herzlich begrüßt zu werden:
„Kommt rein, kommt rein“, ruft sie.
Wir treten ein und merken erst jetzt welche Größe das Haus hat. Jedes Zimmer durch das wir gehen hat fast 50 Quadratmeter und die Möbel scheinen sehr erlesene Antiquitäten zu sein. Anna führt uns in ein Esszimmer und will uns ein Frühstück zubereiten, das wir dankend ablehnen und ihr erklären, dass wir schon ein echtes sizilianisches Frühstück genossen haben. So holt sie Wasser und wir setzen uns. Es gibt viel zu erzählen, denn unser letztes Treffen war vor über einem Jahr.
Sie berichtet uns: „Ich habe in diesem Jahr meinen Abschluss in deutscher Literatur gemacht und muss jetzt nur noch für Lehramt einige psychologische Seminare besuchen. Dann habe ich mein Diplom in den Händen und bekomme im September, oder im nächsten Frühjahr eine Stelle als Lehrerin.“ Dabei strahlt sie über das ganze Gesicht und wir merken, dass dieser Beruf wirklich ein Herzenswunsch von ihr ist.
Als nächstes fragt sie uns: „Was wollen wir machen? Sollen wir nach Catania fahren und ein Museum anschauen oder ans Meer schwimmen gehen?“
Ich bin für Schwimmen im Meer, denn ich sehne mich nach Ruhe und Erholung. Da Eduard nicht widerspricht merke ich, dass Anna sichtlich erleichtert ist, dass wir uns für das Meer entschieden haben. Sie geht schnell ihre Badesachen holen und betont, dass in Sizilien fast jede und jeder eine gepackte Badetasche in Petto hat, um sofort ans Meer zu können.
Am Strand ist schon viel los und Anna erklärt uns: „Wer es sich irgendwie leisten kann und nicht arbeiten muss, der ist zu dieser Jahreszeit am Meer, denn die Hitze ist sonst fast nirgendwo auszuhalten außer vielleicht oben am Ätna.“
Auf meine Frage hin: „Warum wolltest du uns dann mit uns in ein Museum schleppen?“ Sie antwortet lapidar: „Da gibt es Klimaanlagen, da kann ich die Hitze auch aushalten.“
Wir müssen alle lachen und Anna fragt, wer mit ins Wasser geht. Ich bin schon ziemlich durchgeschwitzt und freue mich auf eine Abkühlung. Der Sand ist glühend heiß, die meisten Badegäste haben Schlappen an, um sich die Füße nicht zu verbrennen – auch Anna. Das ist der Unterschied von Einheimischen und Touristen, merke ich. Das Wasser ist wohltuend und ich schwimme weit hinaus Anna bleibt zurück und da drehe ich lieber wieder um und schwimme an den Strand zurück.
Sie ermahnt mich: „Bitte schwimme nicht mehr so weit hinaus hier gibt es gefährliche Strömungen und manchmal auch große Fische, die sich verirren und das ist alles andere als lustig.“ Ich verspreche es ihr.
Nass und voller Elan beschließen wir einen Strandspaziergang mit den Füßen im Wasser zu machen. Anna tut geheimnisvoll und da sehe ich so eine Art Kiosk. Darauf steuert sie zu und kauft für jeden von uns eine Kugel Haselnusseis. Ich muss gestehen, dass dieses Eis am Strand das beste war, das ich jemals gegessen habe – alle die ich in Sizilien probiert habe, eingeschlossen. Das gilt auch heute noch, 35 Jahre später.
Als wir an unserem Strandtuch zurück sind, drängt sie zum Aufbruch Eduard ist jetzt im Meer schwimmen, also packen wir alles zusammen und warten auf seine Rückkehr. Ich spüre die Hitze, die sich schwer und erbarmungslos über die Landschaft und uns ausbreitet. Die Luft glitzert in bunten Lichtpunkten. Eduard kommt zurück und wir brechen auf.
…