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Der Bart ist ab

Es begann harmlos.

Eines Tages tauchte ein Typ mit einem, ich nennen ihn mal „Neo-Barock-Bart“, im Café auf. Oder anders gesagt, er schritt mit einer Allongeperücke, so einer die Ludwig XIV zur Staatsperücke ernannt hatte, geradewegs auf den letzten freien Platz zu. Nur: der Typ trug das Haarmonster im Gesicht und nicht auf dem Kopf, wie damals der König. Die Lockenpracht war so ausladend, dass sie fast den Cappuccino-Milchschaum auf dem Tablett der Kellnerin streifte, die sich gekonnt an dem Mannsbild vorbeischlängelte.
Ich schaute erst irritiert, dann bewundernd.

Plötzlich gab es Bärte überall. Männer, die bis vor Kurzem nur rasiert und glattgesichtig durch die Gegend gelaufen waren, trugen auf einmal Gesichtsbehaarung in kathedralem Ausmaß. Es war, als hätte sich die männliche Bevölkerung kollektiv entschlossen, eine Armee aus Piraten, Holzfällern und Jahrhundert-Philosophen zu werden.

Einmal angefixt, fallen mir seitdem Männer auf, an denen bis dahin mein Blick vorbei oder mitten durch ging. Bärte sind ab sofort nicht einfach nur Gesichtsbehaarung in meiner schlichten Wahrnehmung. Sie sind Statements. Ausdruck von Persönlichkeit, Weltanschauung und manchmal auch geistiger Verwirrung. So mein Eindruck.

Innerhalb kurzer Zeit hat sich die Welt, in meinen Augen, verändert. In Restaurants gibt es blitzblanke Bart-Garderoben, an denen man Gesichtsaccessoires ordentlich aufhängen kann. Modemarken bringen Bart-Schmuckkollektionen heraus – mit LED-Beleuchtung für den modernen Mann. Eine Fluggesellschaft verbietet Passagieren Bärte über 30 cm, weil sie zu viel Handgepäckplatz beanspruchen, las ich in der Knallpresse.

Dann lief mir doch tatsächlich ein „Revoluzzerbart“ in der Parkgarage über den Weg und versank, mit seiner zarten Begleiterin und einer exakt gefalteten und dezent gelabelten Papiertasche, in einem SUV der Sternklasse. Er trug nicht den in Bronze gegossenen „Karl-Marx-Rauschebart“, er trug das „Che Guevara-Nachfolgemodell“.

Es bleibt nicht bei Bärten nur für Männer. Die Bart-Avantgarde experimentiert divers. Der „Doppeldecker-Bart“ – ein kleiner Schnurrbart über einem größeren Schnauzer. Der „Ironische Kinnvorhang“ – eine Fusion aus Abraham Lincoln und Jazz-Bassist. Und dann, der Gipfel: der „Freestyle-Bart“. Hier toben sich die Bartträger künstlerisch aus – mit eingebauten Zöpfen und anderem Gezausel, das für Nachhaltigkeit stehen soll.

In einem gut besuchten Gartencenter entdeckte ich hinter prallen Sukkulenten versteckt ein Mannsbild, leider nur eine mittelmäßige Kopie von Dalí, mit einem „Surrealistischen Antennenbart “. Das pieksige Gebilde, in seinem blassen Gesicht, stand quer zur hochgewachsenen gelb-grünen Sansevieria, nach der ich beherzt griff. Bei genauer Betrachtung am Objekt meiner pflanzlichen Begierde vorbei, sah ich, der Mutige hatte seinen Bart zu einem komplexen „Origami-Kunstwerk“ gefaltet und damit meine Bewunderung auf seiner Seite. Dabei fällt mir ein, dass dem Hipster aus meiner Nachbarschaft auch ein Bart wächst. Erst war es ein zarter Flaum, dann kam der Vollbart – gepflegt, gewachst, gestutzt wie sein englischer Rosengarten.

Eine Freundin, der ich von meiner neuen Bartobsession erzählte, entdeckte einen Urban-Wikinger. Der hatte ab Kinn abwärts zwei Fischgrätenzöpfe mit HightechRegenbogenperlen kombinierte und war die Attraktion zwischen Vorstadtweibern auf dem Spielplatz ihrer Zwillinge. Nur bei der Bartwichse wurde er nicht optimal beraten. Der Traumboy roch nach Fischöl.

Ein fast Pensionär aus meiner Behörde – ich nenne ihn mal Bernd – hat einen so langen Bart, dass er ihn sich über die Schultern werfen kann. Einen natürlichen Schal nennt er das und den braucht er auch, wenn er ohne Eile im kühlen Archiv behutsam die Akten für die Nachwelt sortiert. Doch den Bernd habe ich unterschätzt. Er wurde ein Social-Media-Star. Influencer, Schickimickis und sogar Politiker sprangen auf seinen Langbart-Trend-Zug auf und übten sich, mit mehr oder weniger Erfolg, in Geduld.

Eines Morgens entdeckte ich ein Start-up in meiner Straße: „Bart & Smart – Die Zukunft im Gesicht“. Sie bieten Bärte als Service an! Kein Wachstum nötig, alles ist machbar. Der Algorithmus wählt den perfekten Bart für den Charakter. Der Kunde kann sich den „Weltreisenden Intellektuellen“ bestellen oder den „Rau aber herzlich“-Look wählen. Gegen Aufpreis gibt es den „Philosophen mit Existenzkrise“.

Dann geschah das Unvermeidliche: Ein Mann, mit asiatischen Äußerlichkeiten, verfing sich mit seinem minimalistischen „Zen-Bart“ in einer Rolltreppe, weil er nicht mit dem technischen Hinterhalt in unserer Republik gerechnet hatte. Es folgte eine Debatte über Sicherheit, Ethik und die gesellschaftliche Verantwortung gegenüber Andersaussehenden.

Und dann, ganz plötzlich, war alles vorbei.

Ein berühmter Schauspieler lässt sich im Fernsehen live rasieren – „Back to Basics“, sagt er. Der Trend starb innerhalb kurzer Zeit.

Bernd ließ sich von Kopf bis Fuß glattrasieren und verkauft seitdem ergo-dynamisch angepasste Rasierer im Internet. Manche sagen, er sei klug. Andere nennen ihn einen Verräter.

Dann sah ich eine Schlagzeile: „Die Post-Bart-Ära beginnt – Glattrasur ist das neue Statement!“

So ist das mit den Bärten. Sie wachsen – und sie fallen.