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Wildwuchs

Kaum sind die kargen Wintermonate vorbei und die Tage werden länger, fängt es in der Natur an zu sprießen und zu wachsen. Alle Bäume und Pflanzen haben nach der langen Ruhepause so richtig Lust auf “Action“. Wir Menschen freuen uns über jedes zarte Pflänzchen, das sich dem Licht entgegenstreckt. Das Sonnenlicht lässt uns in Aufbruchsstimmung verfallen.

Diese Euphorie hält so lange an, bis der Punkt erreicht ist, wo uns die Wachserei zu dicht, zu hoch, zu breit erscheint. Das Licht zu grell, die Luft zu schweißtreibend. Die Vielfalt soll bestehen bleiben, der Wildwuchs aber bekämpft werden.

Wer bestimmt nun den Verlauf der Trennungslinie? Sollten wir nicht lieber eine Verbindungslinie suchen, einen Pool der Gemeinsamkeiten?

Jeder Baum hat so eine Art Hausverstand und weiß, wie hoch er wachsen darf, ohne umzufallen. Die Wurzeln liefern Informationen über die Bodenbeschaffenheit und regulieren so das Höhenwachstum. Sie passen sich ihrer Umgebung an.

Die Bodendecker hingegen kämpfen um ihren Platz an der Sonne und verfolgen rücksichtslos ihren Weg zum nährenden Licht.

Solange der Mensch nicht eingreift, richten sich die Wachstumsgrenzen nach dem Platzangebot und es herrscht ein natürliches Gleichgewicht, das sein Gesicht immer wieder ändert.

Der Wildwuchs in den Gärten wird manch puristischem Hobbygärtner ganzjährig zur Herausforderung. Der Golfrasen, der in England sein natürliches Reservat hat, ist das gängige Vorbild für den gepflegten Gartenteppich. Reckt ein freches Gänseblümchen, ein zartes Veilchen oder eine Primel vorsichtig das Köpfchen aus dem grünen Universum, ist der Gärtner nicht weit, um mit bloßer Hand, oder gar mit scharfem Stechgerät bewaffnet, dem Wildblumenwuchs den Garaus zu machen! Büsche werden künstlerisch in Szene gesetzt, Hecken akkurat in Form geschnitten, Unkraut gejätet, jeder wilde Trieb wird gnadenlos ausgerottet.

Es setzen sich aber auch immer öfter naturnahe Gärten durch. Da wird auf spezielle Bodenbeschaffenheit Rücksicht genommen und auf ein gutes Einvernehmen zwischen Insekten, Blumenwiesen, Kräuterecken, Gemüsebeeten, Sträuchern und sonstigem Getier geachtet. Im Frühjahr gibt es Sonnenplätze und im Sommer natürlichen Schattenplätze, die zum Faulenzen einladen. Das Dickicht der Hecken bietet so manchem Vogelpaar ein sicheres Plätzchen für ihr Nest.

Den haarigen Wildwuchs am Körper versuchen wir mit verschiedenen Gerätschaften in getrimmte Bahnen zu lenken. Mit Schere, Rasierer, Pinzette, Epiliergerät, Waxing, Laser, versuchen wir unser Erscheinungsbild einer gepflegten und gängigen Version anzugleichen. Das Haupthaar, sofern möglich, darf wild wuchern, in diversen Farben glänzen und in den unterschiedlichsten Längen und Schnitten brillieren.

Unsere Sprache ist überaus vielfältig. Es gibt Körpersprache, Jugendsprache, Hochsprache, Dialekt, Mundart, Fremdsprache, Muttersprache …

Die gegenderte und politisch korrekte Sprache mit Sternchen, Doppelpunkt,

Binnen-I und Glottisschlag, wird nach Ansicht vieler als Wildwuchs angesehen.

Ebenso das verbotene N-Wort, das als Synonym für alle Bezeichnungen steht, die diskriminierend sind und deshalb neue Namen erhalten haben. Wir sollten hier kompromissfähig sein und versuchen einen guten Weg im Sprachdickicht zu finden. Warum nicht Texte in weiblicher Form schreiben, mit Sternchen* Männer sind mitgemeint?

Ein sehr hartnäckiger patriarchaler Wildwuchs ist auch noch in so manchen Oberstübchen der Männerwelt zu finden. Jahrelang wurden Medikamente nur an männlichen Probanden ausprobiert, in diesem Fall wurden Frauen, ohne mit der Wimper zu zucken, den Männern gleichgestellt und sie bekamen ganz einfach dieselbe Dosis wie die Männer.

Die Erforschung von Frauenkrankheiten führte jahrzehntelang ein Schattendasein. In manch maskulinen Augen ist ein Lehrstuhl für Gendermedizin eine bedrohliche Expansion.

Dem Wildwuchs von Tumorgewebe gehört Einhalt geboten. Konservativ, mittels gezielter, wenn möglich personalisierter Chemo-Antikörper-Immuntherapie, und/oder invasiv, mit einem chirurgischen Eingriff. Die Chirurgin muss hier genau die optimale Trennungslinie zwischen Wildwuchs und Normalwuchs finden.

Das gesellschaftliche Leben braucht Normen und Gesetze, um miteinander auf engstem Terrain zusammen leben zu können. Auch Gesetze können unkontrolliert wuchern, dann sprechen wir vom Paragraphendschungel, dieser bildet die Einkommensgrundlage vieler Rechtsanwälte.

Einen Hang zu unkontrolliertem Wachstum hat auch das Einkommen-Steuer-Wirrwarr, ebenfalls ein Dickicht, das zu durchschauen Steuerberatern vorbehalten ist, und diesem Berufszweig eine sichere Einnahmequelle beschert.

Die übertriebene Vielfalt des Warenangebots in Kaufhausregalen, wie fünfzig Sorten Käse, dreißig verschiedene Joghurts, zehn Meter Frühstückszerealien usw. lassen Zweifel an der natürlichen Intelligenz der Konsumgesellschaft aufkommen.

Fazit: Diversität ist nicht immer nur schön, sie kann auch mühsam sein.

Es gibt jedoch Bereiche, in denen Wachstum und Vielfalt zu weit zurückgedrängt worden sind.

Artenreiche Wälder trotzen dem Klimawandel besser. Wenn es mehr Artenvielfalt gibt, kann vielleicht trotz extremer Klimabedingungen die Funktion des Ökosystems erhalten bleiben. Die natürliche Artenvielfalt ist schützenswert, egal ob Bäume, Pflanzen, Tiere oder Landschaften.

Für den Erhalt der Artenvielfalt treten viele Naturliebhaber und aufgeschlossene Bürger ein. Bedrohte Pflanzen- und Tierarten stehen unter Naturschutz, es gibt Krötenwanderwege, Renaturierungsversuche, Nationalparks, Naturschutzgebiete.

Besonders die putzigen Tierchen schützen wir gerne und haben Verständnis für sehr aufwendige Projekte. Bei den Insekten hingegen, wie zum Beispiel den Gelsen, Fliegen, Hornissen und ähnlichem nervigen Gesocks, hält sich meine Empathie in Grenzen. Mich persönlich würde es nicht stören, wenn es keine Stechmücken mehr geben würde, doch ich weiß natürlich, dass ohne diese Population viele andere Tiere nicht genug Futter finden würden und so die Nahrungskette unterbrochen wäre. Also versuche ich auch mit den lästigen Kleinstlebewesen gut auszukommen.

Die Biomasse aller Insekten ist größer als die Biomasse aller Menschen und Tiere zusammen. Sie sind zwar klein, aber dafür viele und verlangen zu Recht respektvoll behandelt zu werden.

Die Diversität der Weltbevölkerung ist ein großer Schatz. Jede Ethnie birgt ein Reservoir an Genen, Kultur und Spiritualität, die für die Überlebensstrategie aller Menschen wichtig ist.

So lange Stacheldrahtzäune Grenzen dicht machen, um die Vermischung des Genpools zu verhindern und die Konzentration von Macht und Geld zu schützen, ist die Humanität und Denkvielfalt bedroht.

Die Wachstumsgrenzen der Gesellschaft, der Wirtschaft, von Städten und Ländern sind endlich und hängen von den Ressourcen unseres Planeten ab. Eine gerechte Verteilung und Nutzung der vorhandenen Güter ist unabdingbar.

Manchmal ist weniger mehr, manchmal aber bedarf es mehr Anstrengung, mehr großer Ideen, mehr Gemeinsamkeit. Unsere Herzen können nicht groß genug sein, um der Menschlichkeit mehr Platz einzuräumen. Unser Geist kann nicht frei genug sein, um neue Visionen zu entwerfen und mehr Licht in das Dickicht der Vorurteile und Ängste zu bringen.

Der rote Faden ist im Dickicht von Verwilderung und Verdrängung unsichtbar geworden. Es bedarf eines hellen und klaren Verstandes um die ausufernde Üppigkeit zu durchdringen.


2.4.24