„Willst du da mal wieder hin?“ „Nicht unbedingt“
Was haben ein Kraftwerk und eine Kirche mit mir zu tun? Mehr als ich dachte.
Sie haben meine Kinderzeit geprägt.
Als kleines Mädchen wuchs ich zwischen einem Gasturbinenkraftwerk mit zwei über 80 m hohen Schornsteinen und einer katholischen Kirche auf.
Was für ein Spannungsfeld!
Auf dem Spielplatz, am Wohnhaus aus den 60er Jahre für 12 Familien gebaut, gab es eine Schaukel, eine Wippe, einen Sandkasten. Ich schaukelte gerne und oft sehr hoch hinaus. Warum ich immer mit dem Rücken zum Kraftwerk auf der Schaukel saß und mein Blick auf die Kirche fiel, kann ich heute nicht mehr sagen.
Die Kirche war mir fremd und bleibt es bis heute. Das Kraftwerk ist abgebaut, die Schornsteine gesprengt.
„Willst du da mal wieder hin?“ „Da ist nichts mehr“
Was haben Schweine und Gartenzwerge mit mir zu tun? Mehr als ich dachte.
Sie haben meine Großelternzeit geprägt.
Es gab nichts Schöneres für mich, als die schulfreie Zeit bei meinen Großeltern zu verbringen. Die einen hatten einen Bauernhof mit Schweinen, denen ich aus kindlicher Bosheit schon mal die Mistgabel in den Hintern gepikst habe. Die anderen hatten Obst, Gemüse und Gartenzweige im Überfluss.
Was für eine unbeschwerte Zeit!
Die Großeltern leben schon lange nicht mehr. Den Bauernhof wollte niemand haben und die Gartenzwerge sind längst zerbröselt.
„Willst du da mal wieder hin?“ „Auf keinen Fall“
Was haben ein Schloss und eine Fabrik mit mir zu tun? Mehr als ich dachte.
Sie haben meine Lehrzeit geprägt.
92 Stufen der Wendeltreppe führten in hohe, kahle und kalte Schlossräume. Sie waren das Nachtlager in meinen Lehrjahren. Das Stockbett stand nah am undichten Fenster. Mein Blick hinaus hing entweder an der Schuhfabrik oder in der Ferne an stiftdünnen Chemieschloten fest. Die Schuhbude war mein Lehrort und bei Nordwind blies stinkende Luft aus Leuna durch alle Ritzen bis in mein Stockbett.
Was für ein Dreck!
Schuhe werden dort schon lange nicht mehr hergestellt. Ein Schlachthof, in dem viele Tausend Schweine täglich in kleine Stücke zerlegt werden, geben den Menschen heute Lohn und Brot.
„Willst du da mal wieder hin?“ „Warum nicht“
Was haben Kiefernwälder und 1000 Seen mit mir zu tun? Mehr als ich dachte.
Sie haben meine Ferienzeit geprägt.
Dichte Kiefern wiegten sich im Wind und ließen ihre Kienäpfel auf mecklenburgischen Sandboden fallen. Drei Wochen Urlaub mit Zelt und das Paddelboot dabei. Wenn ich nicht im Wasser war, war ich auf dem Wasser. Die elterliche Aufsicht hatte eine unendlich lange Zeltplatzleine. Blaue Lippen waren mir egal. Hauptsache ich konnte abtauchen bis vom Holzkohlegrill die Würstchen lockten.
Was für ein Duft.
Heute sind Zelte die Exoten zwischen Campingbüchsen und niemand dreht mehr am Kofferradio, weil man viel einfacher durch die Welt wischen kann.
„Willst du da mal wieder hin?“ „Ich war da“
Was haben eine Mondlandschaft und Vineta mit mir zu tun? Mehr als ich dachte.
Sie haben meinen Blick auf den Wandel in der Zeit geprägt.
Da stand ich in den frühen 70ern mit weißen, aus zartem Garn gehäkelten, Kniestrümpfen in schwarzen Lackschuhchen und kurzem Kleidchen vor dieser unwirklichen Mondlandschaft, die genau vor meinen Kinderfüßen begann. Gerade mal 1,22 cm groß besuchte ich in meinen ersten Sommerferien Verwandte im sächsischen Land. Unweit des Hofes der Tante öffnete sich die Erde vor mir. 200 Meter lange und 70 Meter hohe Schaufelradbagger fraßen sich stoisch Tag und Nacht durch die Erde. Es wird nicht mehr lange dauern, bis die Schaufelräder erst durch ihren Obstgarten und dann den Kern des Hofes ergreifen. Nichts wird übrigbleiben, wenn es bei den Plänen bleibt. Keine Scheune, kein Brunnen, keine Bauernküche, kein gar nichts.
Was für eine Gewalt!
Mehr als 50 Jahre später hat sich das Blatt gewendet. Über der brutalen Verletzung der Erde liegt heute das Leipziger Neuseenland mit üppigen Ufern an glitzernden Seen. Nur die schwimmende Kirche „Vineta“ lugt aus dem Wasser. Sie soll an alle Orte am Grund der Seen erinnern, die Ende der 70er Jahre dem Tagebau rund um Leipzig zum Opfer fielen.